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Replik: Noble Werte, statt bare Münze

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Hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis verdient? Nein, meinte Josef Girshovich jüngst auf diesem Blog. Ja, sagt dagegen Tim Efing. Eine Erwiderung. 


In seinem Blogbeitrag vom 13. Oktober kritisiert Josef Girshovich die Auszeichnung der Europäischen Union mit dem Friedensnobelpreis. Sie sei ein „größtmögliches Eigenlob“, die „Eitelkeit der europäischen Geschichtsschreibung“ in der Begründung des Komitees „berauschend“. Dabei wähnt sich der Autor auf sicherem wie mehrheitsfähigen Terrain:

„Wir halten dagegen: Die Europäische Union hat keinen Frieden in Europa gefördert – denn das waren die USA und die Sowjetunion, die Europa aufteilten und ihre Kriegsschauplätze von diesem innerhalb weniger Jahrzehnte zweifach „bis zur Unfruchtbarkeit mit Eisen und Blut vergifteten Boden“ (François Truffaut, Jules et Jim) nach Afrika, Südamerika und Asien verlegten.“

Einspruch, Herr Girshovich! Wer ist wir? Ich fühle mich weder von Ihrer Art der Geschichtsinterpretation, noch von Ihrer Herangehensweise an den Wert und die Symbolik des Friedensnobelpreises angesprochen oder gar repräsentiert. Sie blenden in Ihrer Argumentation mehrere wichtige Punkte aus, die von der Osloer Jury ausführlich in Ihrer Begründung herangezogen wurden.

Das Komitee aus fünf Mitgliedern hob unter anderem die deutsch-französische Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg als herausragendes Ergebnis der europäischen Integration hervor. Beide Länder sind in den letzten 150 Jahren in drei Kriege gegeneinander verwickelt gewesen. “Heute ist Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar“, so die Jury.

Wolfgang Schüssel, der ehemalige österreichische Bundeskanzler, sagte dazu einst: „Wer die wahre Bedeutung der europäischen Einigung erfassen wolle, der brauche nur einen Gang über die Friedhöfe zu machen“. Angestoßen durch den Schuman-Plan und die Montanunion – die Vorläufer der EU – haben sich Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten über die Gräber von Schreckensorten wie Verdun hinweg die Hände gereicht.

Weiter unterschlägt Herr Girshovich die friedliche Annäherung an Osteuropa vor und nach dem Fall der Berliner Mauer. Den goldenen Westen, der durch den Eisernen Vorhang hindurchstrahlte und nach dessen Zusammenbruch Orientierung stiftete.

Ronald S. Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses, fasste dies nach der Verleihung des Nobelpreises in Worte:

„Als der Eiserne Vorhang niedergerissen wurde und die diktatorischen Regime in Zentral- und Osteuropa weggeschwemmt wurden, war es die EU, die den neuen Demokratien eine Perspektive geboten und von chauvinistischen Verlockungen abgesehen hat.”

Aus der innereuropäischen, historischen Perspektive ist die EU ein einmaliges, gelungenes und großes Friedensprojekt für Frieden in Europa. Das reicht Herrn Girshovich allerdings nicht. Stattdessen hätte Europa versagt, beim Frieden um Europa. In einem wütenden Parforceritt durch einige der heftigsten wie entlegensten kriegerischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte wird allein die europäische Gemeinschaft durch ihn zur Verantwortung gezogen:

„Indem sie bald schon siebzig Jahre tatenlos und dafür bemerkenswert schamlos zusieht, wie sich ihre alten Kolonien in Afrika und Asien bekriegen, sich gegenseitig morden, verstümmeln, vergewaltigen: der Indochinakrieg, aus dem der Vietnamkrieg und die kambodschanischen Bürgerkriege erwuchsen, im französischen Indochina; die afrikanischen Kriege mit ihrer Kulmination, als niederländische Blauhelme um Hilfe riefen und niemand sie hörte – nicht in Brüssel (und nicht in New York), bis dass auch der Boden von Ruanda vor Blut unfruchtbar geworden war. Von Unions-nahen Regionen einmal abgesehen: die Kriege auf dem Balkan – und die Europäische Union schaut zu. Der Bürgerkrieg in Syrien (95 Kilometer von EU-Mitglied Zypern entfernt) – und die Europäische Union schaut zu.“

Abgesehen davon, dass die EU-Kommission der zweitgrößter Geber von Entwicklungshilfe ist und die EU-Länder zusammen mehr als die Hälfte der weltweiten Entwicklungsausgaben zur Verfügung stellen: Herr Girshovich, wie sieht Ihre Alternative aus? Können wir Frieden erzwingen und wenn ja, wie? Interventionen, Peace-Enforcement, Nation Building? Haben wir im Irak und in Afghanistan nicht eindrucksvoll erlebt, wie dies misslingen kann. Soll gegen jeden Staat, der nicht dem Leitbild der westlichen Demokratie entspricht, ein Militärschlag geführt werden? Ein völkerrechtlich anerkanntes Menschenrecht auf Demokratie gibt es nicht. Würden wir die europäische Geschichtsschreibung nicht tatsächlich wieder auf null zurück drehen, wenn wir internationale Einsätze mit dem kolonialen Erbe Europas begründen?

Die EU engagiert sich in zahlreichen humanitären Missionen weit über die Grenzen Europas hinaus – im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und des Völkerrechts. Und wollen Sie die Europäische Union ernsthaft mit Vichy-Frankreich zu Zeiten des II. Weltkriegs vergleichen, wenn Sie schreiben: „So wie Frankreich sich eine relative Ruhe durch die Kollaboration erkaufte, so haben wir uns unseren Frieden in der Europäischen Union blutig erkauft durch lauter Kriege außerhalb der Union“? Wer droht uns zu besetzen oder begeht in der EU gerade einen Völkermord?

Wortgewalt alleine macht noch keine schlüssige Argumentation aus. Es ist diese Art latenter Geschichts- und Kriegsvergessenheit, der unreflektierte Ruf nach Intervention, der die europäische Idee von Frieden und Diplomatie umso wichtiger macht. Die EU betreibt bewusst keine konfrontative, sondern eine kooperative Gegenmachtpolitik gegenüber und mit den Vereinigten Staaten, genauso gegenüber Russland und China.

Diese Politik des dritten Weges gilt als notwendige Voraussetzung für eine ausbalancierte politische Partnerschaft. Klaus-Dieter Frankenberger hat mit Blick auf die nachlassende Erinnerung der Gründungsmotive kürzlich in der FAZ geschrieben: „Mit dem immer größeren Abstand zum Krieg wird das Friedensmotiv immer blasser.“ Es sei die Zentralität von Stärke und Macht, die als neue Argumentationslinie pro EU auffällt, um im Mächtekonzert mit China oder den USA auf Augenhöhe zu verhandeln. Ob das reicht, um die nachwachsenden Generationen von Europa zu überzeugen, bleibt skeptisch abzuwarten.

Von Marc Twain durften wir lernen, dass sich Geschichte nicht wiederholt, wohl aber reimt. Sie ist ein vermeintlich stetiges Auf und Ab von Fortschritt und Verwüstung. Die europäische Idee hat gezeigt, dass wir aus diesen Zyklen lernen können, um nicht jedes Mal bei Null anfangen zu müssen. Darin liegt meines Erachtens die tiefere Symbolik der EU wie auch der Auszeichnung mit dem Nobelpreis.

Just zu einer Zeit, in dem der Zusammenhalt in der EU bröckelt, erinnert das Nobelpreiskomitee die Europäer an ihre stärksten Tugenden. Und daran, was neben der gemeinsamen Währung auf dem Spiel steht. Die meisten Deutschen, die ausschließlich ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand kennen, nehmen Europa und seine Vorzüge als selbstverständlich hin. Aber sie sind alles andere als selbstverständlich. Trotz Wirtschaftskrise: „Europa ist eine Insel der Seeligen, des Friedens, der Freiheit, der Demokratie und des Wohlstands in der Welt“, wie Ludwig Greven von ZEIT online lesenswert herleitet. Insofern ist die Auszeichnung mehr als nur eine Medaille für historische Verdienste. Sie ist auch ein Auftrag in die Zukunft.

Denn gleichzeitig darf Europa nicht überhöht werden. Bernd Ulrich warnte aktuell in der ZEIT vor einem Europa, als die letzte erlaubte Ideologie. Denn Ideologien kennen keine Alternativen, kein Entweder-Oder. Sie erklären und legitimieren sich als Selbstzweck. Europa jedoch muss jeden Tag aufs Neue mehr und besser erklärt werden, wie Bundespräsident Gauck erst kürzlich anmahnte. Vor allem muss es im Nahbereich des täglichen Lebens erfahrbar sein, wie es aktuell die Kampagne „Ich will Europa“ der Stiftung Mercator und Robert-Bosch Stiftung vormacht. Generell können dazu nur eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit und ein Bewusstsein beitragen, wie sie unter anderem der Friedensnobelpreis herstellt.

Es ist bezeichnend, dass der Autor den Wert der Auszeichnung materiell in Euro und Cent zu fassen versucht. Die eigentliche Kraft hinter der Botschaft des Nobelpreises aber ist ideell: Freiheit, Frieden und Prosperität, die auf der Asche der blutigsten Konflikte der Menschheit gewachsen sind. Das, Herr Girshovich, ist meiner Meinung nach nicht selbstverständlich, sondern aller Ehren wert.

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